Wann immer ich über Gerechtigkeit in meinem Leben nachdenke, kommen mir zwei Dinge in den Sinn. Im Quran erfährt der Mensch in der 5. Sure, die den Namen „Al Maaidah“ trägt, im 8. Vers diese Ermahnung zur Gerechtigkeit:
Ihr, die den Iman verinnerlicht habt! Bemüht euch eurer Verpflichtung ALLAH gegenüber nachzukommen und seid Zeugen in gerechter Weise! Die Abneigung einer Gemeinschaft gegenüber darf euch nicht dazu veranlassen ungerecht zu sein. Seid gerecht, dies ist näher zur Ehrfurcht (Taqwa), und erweist euch ehrfürchtig ALLAH gegenüber! Gewiss, ALLAH ist dessen allkundig, was ihr tut.
Im Quran finden wir viele Verse, die sich mit dem Thema Gerechtigkeit beschäftigen, doch für mich ist der oben genannte Vers von besonderer und ausstrahlender Bedeutung. Die Universalität von Gerechtigkeit, die hier zum Ausdruck gebracht wird ist von beeindruckender Schönheit und Logik.
Auch in unserem Grundgesetz wird Gerechtigkeit als ein Grundrecht angesehen. In Artikel 3 steht zu lesen:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Jeder Muslim, der sich intensiv und mit wachem Verstand seiner Religion widmet, wird in diesen Aussagen des Grundgesetzes keinen Widerspruch zu den Lehren des Islams finden. Doch der Islam geht interessanterweise einen großen Schritt weiter, denn ALLAH fordert den Muslim dazu auf, Gerechtigkeit konsequent zu üben, und sich nicht von seinen Emotionen, Abneigungen und persönlichen Befindlichkeiten leiten zu lassen, wenn es darum geht, Gerechtigkeit zu üben. Vielleicht ist die konsequente Praxis von Gerechtigkeit die größte Herausforderung, vor der wir Menschen in unserem Leben stehen, denn die Versuchung zum Eigennutz und zum Nutzen derer, die uns Nahe stehen, fünfe gerade sein zu lassen und damit ungerecht zu handeln oder zu urteilen, ist immer sehr groß.
Der Dramatiker Johann Christoph Friedrich von Schiller fasste diesen Hang des Menschen zur Selbst-Gerechtigkeit in seinem Werk „Marie Stuart“ in diese Worte:
„Misstraut Euch, edler Lord, dass nicht der Nutzen des Staates Euch als Gerechtigkeit erscheine."
Der große muslimische Gelehrte Abu Hamid Al-Ghazali identifizierte vier grundlegende gute Charaktereigenschaften für den Menschen:
„Daher gibt es vier grundlegende gute Charaktereigenschaften: Weisheit, Mut, Ausgeglichenheit und Gerechtigkeit. Mit ‘Weisheit’ meinen wir einen Seelenzustand, durch den zwischen wahr und falsch unterschieden werden kann. Mit ‘Gerechtigkeit’ meine ich einen Zustand, durch den Ärger und Verlangen in Zaum gehalten werden. ‘Mut’ ist die jähzornige Eigenschaft des Verstandes, während wir unter ‘Ausgeglichenheit’ die disziplinierende Wirkung von Verstand und dem Recht begreifen. Aus dem Gleichgewicht dieser vier Prinzipien leiten sich alle guten Charaktereigenschaften ab…“
Wenn der Mensch „Ärger und Verlangen nicht in Zaum“ halten kann, dann kann aus Weisheit schnell Torheit erwachsen, der Mut zu Übermut werden und aus Ausgeglichenheit Fatalismus erwachsen. Vielleicht bleibt aus diesem Grund Gerechtigkeit das Alpha und das Omega für das faire Miteinander.
Nun zur zweiten Sache, die mir in den Sinn kam, als ich an diesen Artikel schrieb. Ich erinnerte mich an eine Geschichte, die mir mein Vater vor vielen Jahren einmal erzählte, als wir über Gerechtigkeit sprachen. Im Folgenden gebe ich diese Geschichte wider:
In einem Land herrschte ein ungerechter König, der jeden, der ihm unliebsam war bestrafte.Eines Tages wurde ein Mann der Beleidigung des Königs beschuldigt und angeklagt. Dieser Mann war jedoch im ganzen Land bekannt für seine Aufrichtigkeit, Wahrheitstreue und Tugend, und dennoch, niemand wagte es, seine Stimme für ihn zu erheben.
Der dem König blind ergebene Richter verurteilte den Mann dazu, aller Unschuldsbekundungen zum Trotz, für einen Tag und eine Nacht an den öffentlichen Pranger mitten auf den Marktplatz gestellt zu werden. Gleichzeitig verpflichtete er jeden Bürger der Stadt dazu, den Verurteilten mit einem Kieselstein zu bewerfen, um auf diese Weise Königstreue auszudrücken. Jedem, der dieser richterlichen Weisung nicht Folge leistete, wurde mit Strafe gedroht.
Keiner wagte es die Anweisung zu missachten, so dass der Verurteilte von jedem Marktbesucher mit einem Kieselstein beworfen wurde. Erstaunlicherweise ertrug der am Pranger stehende Mann sein Schicksal mit großer Ruhe und kein Wort des Wehklagens ging über seine Lippen. Als am späten Abend der beste Freund des zu Unrecht Verurteilten den Markt aufsuchen musste, um seine Einkäufe zu tätigen, gelang es ihm nicht, den Pranger zu umgehen. Von den Schergen des Königs wurde er dazu gedrängt, der richterlichen Anordnung zu entsprechen. So näherte er sich seinem Freund, brachte es aber nicht über das Herz, einen Stein auf ihn zu werfen. Da erblickte er eine Rosenblüte auf dem Boden, er hob diese auf und warf sie auf seinen Freund. Als die Blüte den Verurteilten an der Brust traf, schrie dieser laut auf vor Schmerz. Erschrocken lief der Freund zum Pranger und sagte: 'Mein Freund, die Steine, die dich trafen haben dir schreckliche Wunden zugefügt, aber kein Wort des Schmerzes kam über deine Lippen. Wie konnte meine Rose dich so verletzen, dass du vor Schmerz aufgeschrien hast?' Mit Tränen in den Augen antwortete ihm der Verurteilte: 'Deine Rose hat mich stärker getroffen als der größte Stein, ist sie doch Beleg dafür, dass deine Achtung für den König stärker ist als unsere Freundschaft. Wie konntest du an meiner Unschuld zweifeln, deine Hand gegen mich erheben, und an diesem Tage mir nicht zur Seite stehen?“ Sprach er und starb.
In dieser kleinen Geschichte wird zum Ausdruck gebracht, wie schwer es sein kann, in einer Situation in der das Unrecht zum Recht verklärt wird, gerecht zu handeln und welche fatale Folgen auch die kleinste Form von Ungerechtigkeit nach sich ziehen kann.
Gerechtigkeit ist und bleibt der Drehangelpunkt des menschlichen Gemeinwesens, so dass muslimische Gelehrte, wie Imam Nouridin al-Haqqani oder Abdurrahman al-Qawalibi, zu dem Schluss kommen, dass ein gerechter nicht-muslimischer Herrscher einem ungerechten muslimischen Herrscher der Vorzug zu geben ist. Zur Zeit des Propheten Muhammad (Friede sei auf ihm) war es der christliche Negus von Abessinien, bei dem Muslime Zuflucht nahmen.
Der muslimische Gelehrte Muhammad Ahmad Sarachsi sagte einmal: „Gerechtigkeit walten zu lassen rangiert unter den erhabensten demütigen Taten, gleich nach dem Iman an ALLAH. Es ist die größte Pflicht, mit der die Gesandten gekommen sind.“ Der Gefährte Abu Tharr al-Ghifari überliefert den folgenden Hadith über die Gerechtigkeit Allahs: „Oh meine Geschöpfe, Ich habe Mir selbst die Ungerechtigkeit verboten, und sie unter euch auch als verboten erklärt. Also vermeidet, ungerecht zu einander zu sein.“ Diesem Dictum und dieser Verpflichtung im Leben Folge zu leisten, gilt für Muslime wie auch Nicht-Muslime gleichermaßen.
Autor: Belal El-Mogaddedi